"rot und grün" in der Galerie 1822-Forum

Verwobenes

 

„Der Mensch“, heißt es in den „Pensées“, „ist substanzielle Einheit. Zerlegt man ihn aber, ist dann diese Einheit der Kopf? das Herz? der Magen? die Adern? jede Ader? jeder Teil einer Ader? das Blut? jedes Blutkörperchen?“ Es mag um diese Zeit gewesen sein, dass die anatomischen Theater in Europa aufkamen, und fast wie manchem heute mochte es Pascals Zeitgenossen seinerzeit erscheinen, dass das Rätsel Mensch mit jedem Blick tiefer hinein in diese wundersame Maschine sich allmählich offenbare. Allein, so einfach war und ist es nach wie vor ganz offensichtlich nicht.

Nun ist es angesichts ihrer Arbeiten nicht zu übersehen, dass Mirjam Yvonne Vogl in anatomischen Fragen außerordentlich bewandert ist. Doch ist ihr Blick, sind ihre kaum zu stillende Neugier und vor allem ihr künstlerisches Interesse dem des Philosophen ungleich näher als dem des Anatomen. Dabei geht sie im Grunde durchaus ähnlich vor. Sitzt stunden-, tage-, wochenlang hoch konzentriert vor einer Pflanze, einer Abbildung oder auch einem Präparat, um den Gegenstand akribisch und so genau als möglich mit Bleistift auf Papier zu übertragen. Und es ist kein Zufall, dass die junge Künstlerin in Bezug auf ihre Arbeitsweise von „Sezieren“ spricht.

Doch je näher sie den sorgfältig präparierten Organen, Wurzeln auch und Moosen zeichnerisch zu kommen trachtet, desto mehr löst sich alles auf in wunderlich feine Verästelungen und ins Unendliche verzweigte Rhizome, ein Geflecht aus langsam das Blatt erobernden Lineaturen, Aussparungen und Verdichtungen bis zur völligen Abstraktion. Und es ist ebenjene Spannung, die dieses noch so junge Werk gleichermaßen irritierend wie verführerisch erscheinen lässt. Denn näher als Vogl kann man einem Körper zeichnerisch nicht kommen, präziser die Strukturen eines Mooses hier, des Trigeminus dort vermutlich kaum erfassen.

Das Rätsel aber bleibt, mehr noch, wächst sich aus und setzt sich jenseits des Anatomischen poetisch fort. Denn nicht nur, dass wir Gegenständliches als abstrakt wahrnehmen in diesen Blättern, Vegetabiles als Landschaft, Unscheinbares, Abstoßendes gar wie die Darstellung innerer Organe als essentiell, voller Intensität und, ja, Schönheit; dass mikro- und makroskopische Wahrnehmung hier geradeso verwoben scheinen wie Vogls zeichnerische Strukturen. Das Wunder, sagen diese Blätter, ist das Leben selbst, in all seinen Formen. Und mithin die Vergänglichkeit. Was aber bleibt von der substanziellen Einheit? Schließlich hat Pascal vom Tod Gottes noch nichts ahnen können.

„Von fern gesehen“, fährt er in seinen „Pensées“ fort, sind eine Stadt, eine Landschaft eine Stadt und eine Landschaft; aber in dem Maße, in dem man sich ihnen nähert, sind sie Häuser, Bäume, Dächer, Blätter, Gräser, Ameisen, Beine von Ameisen und bis ins Unendliche. Alles das ist in dem Namen der Landschaft enthalten.“ Mirjam Vogl, scheint es, hat ihren Pascal gelesen. Doch mit jedem ihrer Blätter, so scheint es, verhält es sich trotz des sezierenden Blicks gleichsam komplementär. In jedem Blatt und jedem Grashalm und noch im geringsten der Organe, Muskeln, Kapillare offenbart sich ihr eine ganze Welt auf eine ebenso unprätentiöse wie ergreifende Art und Weise: die Schönheit der Schöpfung, das Wunder, das im Werden und Vergehen alles Lebendigen liegt. Und was bleibt, stiftet die Kunst.

 

Christoph Schütte (Text im Katalog zur Ausstellung)


Einzelausstellung von Mirjam: 3. Juni bis 4. Juli 2009